Westfernsehen!! Da verleiert der Anti-RIAS-Hörer und Ochsenkopf-Antennenabsäger die Augen...
Augsburger Puppenkiste versus Professor Flimmrich oder:
Pawel Kortschagin versus John Wayne
Im Herbst 1969 setzte sich der Klassenfeind mit neuer willkommener Raffinesse in die heimatlichen Fernsehstübchen.
Ronalds Eltern besaßen seit Anfang der sechziger Jahre einen Fernseher. Neben dem Programm der DDR, das bis ins Jahr 1969 nur aus einem einzigen Kanal bestand, konnte man in
Ronalds Heimatstadt gleich mehrere westliche Regionalsender in ausgezeichneter Qualität empfangen, so dass man zuweilen schon damals die Qual der Wahl hatte.
Zeitgleich mit der Einführung des zweiten DDR-Fernsehprogramms schaffte sich Ronalds Vater auch ein Zusatzgerät für das ZDF an.
Diese Zusatzgeräte, auch Konverter genannt, waren seinerzeit ein großer Renner auf dem ostdeutschen Schwarzmarkt. Da sie - trotz Einführung des zweiten Programms auf
UHF-Frequenzen - einige Jahre nicht oder nur sehr schwer im Handel erhältlich waren, verlegten sich findige Bastler darauf, die Konverter mittels abenteuerlichen Schaltungen und unter Verstoß
gegen diverse Ost-Fernmeldegesetze selbst zu basteln.1
Grundsätzlich war ein solcher Umsetzer ein recht einfaches Gerät und mit geringem Aufwand zu realisieren. Problematisch gestaltete sich lediglich die Beschaffung geeigneter hochfrequenztauglicher
Transistoren, die Ende der sechziger Jahre im DDR-Handel noch nicht zu bekommen war.
Abhilfe schafften da zumeist Westkontakte.
Alternativ gab es auch Varianten mit klassischen Elektronenröhren, die jedoch unhandlicher und komplizierter zu bauen waren und daher auch nur wenig Verbreitung bei der Kundschaft fanden.
Nachdem der Vater das Gerät beschafft hatte, war er, gemeinsam mit Ronald, für einige Stunden beschäftigt, es gemeinsam mit einer neuen Antenne zu justieren und die
Verkabelung zu erneuern. Mit herkömmlichen Breitband-Flachkabeln gab es zuweilen Empfangsschwierigkeiten, die aber zumeist bei Wahl einer anderen Verlegestrecke oder auch durch Umhüllen mit
einigen Handbreit Aluminiumfolie wie durch Zauberhand verschwanden.
Die Familie war begeistert und nach dem erfolgreichen Pilotbetrieb beim Vater öffnete sich nach wenigen Tagen auch bei den Großeltern das neue Fenster zum Westen.
Ronald wurde aus Gründen der Beamten- und Lehrer-Räson zum Stillschweigen verpflichtet, was ihm allerdings sauer genug ankam, zumal im Laufe der kommenden Monate und Jahre im
zunehmenden Maße immer weitere seiner Kameraden Zugang zu den neuen Fernsehkanälen bekamen und begeistert davon in der Klasse erzählten.
Nichtsdestotrotz zog er sich mit wachsender Begeisterung die westlichen Beiträge und Filme 'rein. Besonders interessierten und faszinierten ihn Science fiction- und
Abenteuerfilme. Serien, die, nach Ronalds und seiner Kameraden Meinung, fast immer intelligenter und professioneller als ihre östlichen Pendants konzipiert und umgesetzt waren.
Ganz zu schweigen von kulturellen Pflichtveranstaltungen wie 'ZDF-Hitparade' oder 'Disco'. Auch wenn der weitgehend unmusikalische Großvater in schöner Regelmäßigkeit über die
unmögliche und am besten zu verbietende "englische Urwald- und Hottentottenmusik" und "Urmenschen-Haarmode" schimpfte, ließ Ronald sich die Freude an den musikalischen Darbietungen nicht nehmen.
Der Großmutter hingegen gefielen die beiden Samstagabend-Sendungen fast durchweg und sah es mit den langen Männerhaaren und den fremdsprachigen Liedtexten auch nicht ganz so verbissen. Gut,
es gab ja auch Ausnahmen, speziell im deutschen Schlagergeschäft..
Die Alternative wäre das Umschalten auf Kampflieder der Arbeiterklasse oder Pioniergesänge im Ostfernsehen gewesen, aber da biß der Großvater dann doch die Zähne zusammen. Das
Kommunistengejaule kam ihm nicht in die gute Stube und als Lichtblick gab es ja in diesen Sendungen auch noch Heino, Freddy Quinn, Roy Black oder Udo Jürgens, die Ronald trotz aller
Germanophobie in diesem Metier ebenfalls sehr zusagten! Hier war er schlichtweg flexibel!
Die einzigen Highlights im Ostfernsehen waren russische Märchenfilme, deren Phantasie und Liebe in Ausstattung und Darstellung vom Klassenfeind nicht erreicht wurden. Gerne sah
er sie bei den Wochenendserien "Professor Flimmrich" oder auch "Meister Nadelöhr", deren Spiel- und Trickfilmangebote zuweilen recht ansehnlich und interessant waren.1 Da drückte auch der
Großvater schon mal beide Augen zu.
Wenngleich, beim flimmernden Professor liefen zuweilen auch russische und DDR-Politschinken, die in einem für Ronald nervigem Holzhammer-Pathos vom heldenhaften Kampf der
Sowjetmenschen oder der Kommunistischen Partei gegen Faschismus, Krieg und böse kapitalistische Ausbeuter handelten.
Grundsätzlich konnte er die in den Streifen zugrundeliegende Botschaft schon verstehen, jedoch empfand er die filmische Umsetzung zuweilen nur gräßlich.
Der Großvater wurde bei der Ansicht dieser Werke jedesmal ungehalten, empfahl Ronald mit schöner Regelmäßigkeit, seinen Verstand zu gebrauchen und schimpfte auf die
unprofessionelle und tendenziöse rote 'Proletenkunst' aus Taiga und mongolischer Wüste.
Ganz unrecht hatte er jedoch nach Ronalds Meinung nicht, denn auf den Kanälen der von den roten Filmen verteufelten Kapitalisten war es schon weitaus interessanter,
abwechslungsreicher und ging auch meist viel spannender zu, so dass er ohnehin nur in Ausnahmefällen auf die beiden Kanäle aus Ostberlin-Adlershof schaltete!
Besonders gefielen Ronald intelligent gemachte Stücke wie 'Der Mann von gestern', 'Gefährliche Experimente' oder 'Geschichten, die nicht zu erklären sind'. Nicht eine Episode
von 'Time Tunnel' ließ er sich entgehen.
Aber auch Krimis, wie 'FBI', 'Der Chef', 'Wanninger' oder Graf Yoster" standen hoch im Kurs, gleichermaßen ironische und lustige Agentenfilme, wie 'Maxwell Smart'. Später kamen
noch 'Tarzan' und Käpt'n Kirk mit 'Raumschiff Enterprise' hinzu.
Obwohl sie zugab, nicht eine Minute dieser westlichen 'Machwerke' gesehen zu haben, gab die Klassenlehrerin Ronald und weiteren fleißigen Westfernseh-Enthusiasten zu verstehen,
dass es sich bei diesen Sendungen ausschließlich um verdeckte Propaganda zur Verharmlosung und Billigung des imperialistischen Krieges in Vietnam handele, die zudem noch die ruhmreiche
Sowjetunion und die friedliebenden Völker in aller Welt diskreditiere.
Aber vergeblich! Ihre Agitation war ziemlich für die Katz'.
Kaum jemand ließ davon ab! Im Gegenteil. Sendungen wie 'Rauchende Colts', 'Bonanza' oder 'Shiloh Ranch' gehörten zum festen Tagesablauf der Thälmann-Pioniere und späteren
Kampfreserve der Partei2.
Absolute Höhepunkte waren die zumeist sonntäglichen Sendungen der 'Augsburger Puppenkiste'. Hier saßen wirklich fast alle Kinder vor der Glotze und waren sich trotz aller
anderen Meinungsverschiedenheiten einig.
Das Urmeli, Bill Bo und seine Bande, der gut brüllende Löwe und Kalle Wirsch waren die damaligen Helden der Kinder und wurden an den Folgetagen, sehr zum Ärger mancher
linientreuer Lehrergenossen, in den Klassen nachgespielt. Ronald hatte sogar den Ton von einigen Episoden auf Magnetband aufgezeichnet und kannte die Lieder der sympathischen Marionetten in- und
auswendig.
Diese Sendungen waren natürlich ganz besonders perfide, da sie überhaupt keinen politischen Klassenstandpunkt zeigten ...
Die Sendungen der Puppenkiste besitzt der Verfasser heute fast vollständig auf DVD. Dann noch 'Minimax' und 'Time Tunnel' im Original aus den USA.
Mit seiner Tochter besuchte er nach der Wende das Theater in der Augsburger Spitalsgasse. Beim Anblick der sich öffnenden großen Holztüren war er tief ergriffen.
Im Juli 1969, als die USA die ersten Menschen auf den Mond schickten, saß Ronald fast zwei Tage ununterbrochen vor dem Fernseher, die Bücher von Jules Verne und Hans Dominik
neben sich und erlebte den 'kleinen Schritt' live mit.
Die Weltraumfahrt hatte ihn bereits seit Jahren interessiert und er besaß stapelweise Bücher darüber. Darunter befanden sich auch zwei handsignierte Werke von Hermann Oberth
und Wernher von Braun, die auf unerfindlichen Wegen in den dreißiger und späten fünfziger Jahren den Weg nach Spießdorf auf den Dachboden seines Großvaters beziehungsweise dessen Bücherschrank
gefunden hatten.
Eine glückliche Fügung ergab, dass er zeitgleich mit der Mission des achten Apollo-Raumschiffs auch Jules Vernes 'Von der Erde zum Mond' als Weihnachtsgeschenk bekam.
Die Klassenlehrerin sprach zuweilen auch über diese Ereignisse, gab aber zu verstehen, dass es sich hier lediglich um ein irrwitzig teures und sinnloses Ablenkungsmanöver vom bösen
US-imperialistischen Vietnamkrieg handele und die Amis ohne die geistigen Arbeiten des genialen russisch-sowjetischen Forschers Ziolkowski1 niemals soweit gekommen wären. Außerdem wäre dies alles
gesteuert von alten, unverbesserlichen Faschisten aus Deutschland. Selbstverständlich wäre sie dazu in der Lage und würde - selbstverständlich - auch gewinnen, wenn sie nur wolle, aber
niemals, wirklich niemals, würde sich die ruhmreiche Sowjetunion auf einen hirnverbrannten und irrwitzigen Wettlauf zum Mond einlassen.
Das diese es aber tatsächlich tat und sogar mit weitaus höherem Aufwand als die Hegemonialmacht des Kapitalismus, konnte sie damals nicht wissen.
Damit befand sie sich teilweise in guter Gesellschaft mit dem bösen Westen, denn dies war in der UdSSR und somit auch in der DDR ein absolutes Staatsgeheimnis und kam erst nach
mehr als drei Jahrzehnten ans Tageslicht.2
In Sachen Ziolkowski wußte es sie es möglicherweise wirklich besser, sagte aber nichts davon. Ronald jedenfalls verkniff er es sich, mit gespielter Unschuld nach Hermann
Oberth und Wernher von Braun zu fragen oder jene gar lobend zu erwähnen.
Das waren ja die Unverbesserlichen aus Deutschland!3
Bis zum letzten, dem siebzehnten Apollo, versäumte er keine Mondlandung und verfolgte genauso interessiert die erfolgreichen Missionen der ferngesteuerten russischen Mondautos.
Er war ja nicht so!
Trotz allem Spaß und aller Freude, die Ronald mit seinen mittlerweile Regalmetern an Fachbüchern und halblegaler belletristischer Literatur hatte, und trotz allem Vergnügen am Fernseh- und
Kinoprogramm des Klassenfeindes, war es für ihn in manch anderer Beziehung nicht leicht.